Jussifs Gesichter, Roman aus der Mekka-Bar by Carl Hanser Verlag

Jussifs Gesichter, Roman aus der Mekka-Bar by Carl Hanser Verlag

Autor:Carl Hanser Verlag [Verlag, Carl Hanser]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-09-24T04:00:00+00:00


Sechstes Kapitel

Ein Streifzug durch die Chajjam-Straße:

als wäre man im Kino

Als Jussif an die Kreuzung Raschid-Straße/Chajjam-Straße gelangte, fühlte er die Maske in seiner Hosentasche. Statt seinen Weg in Richtung Sa’adun-Straße fortzusetzen, wechselte er auf die andere Straßenseite und bog nach links ein. Er war glücklich, als habe er seinen alten Namen, an den er in Kindheit und Jugend gekettet war, für immer abgelegt, bevor er vor vielen Jahren den Laden seines altes Freundes, Josef Karmalis, aufgesucht und ihn gebeten hatte, ihm gefälschte Papiere mit einem neuen Namen zu verschaffen. Einerlei, welchen Namen ihm sein alter Freund – Josef Karmali, Josef K. oder »Harun Wali«, wie er es jetzt wollte – verpasste, er würde ihm immer dankbar sein. Denn indem Josef Karmali seinen ursprünglichen Namen, Jussif, annahm, half er ihm, sich seiner selbst noch mehr zu nähern. Und je größer der Abstand zu seinem ursprünglichen Namen wurde, desto inniger verschmolz er mit dem neuen Jussif Mani.

Jussif spürte eine plötzliche Welle der Freude in sich aufsteigen. Sein Herz schlug heftiger, und er beschleunigte seine Schritte. Es war, als wolle er so schnell wie möglich ankommen. Dieses Gefühl machte ihn froh, weil er sich zum ersten Mal bewusst wurde, dass er nicht mehr der alte Jussif Mani war. Er nahm die Dinge mit anderen Augen wahr und konnte sich an ihnen freuen. Er war glücklich, seine Erinnerung Stück für Stück zurückzugewinnen, mehr und mehr zu sich selbst zu finden. Als er den Eingang des Chajjam-Kinos erreichte, drängte diesmal alles mit Macht in sein Gedächtnis. ›Es ist vier Uhr nachmittags, und die Klingel läutet den Beginn der Filmvorführung ein‹, sagte er sich. ›Wir schieben uns mit anderen Menschen zum Kinoeingang. Und wieder gelingt es uns nicht, eine Eintrittskarte zu ergattern.‹

Er war sich bewusst, dass er mit seinem Bruder und seinem Vetter mehrmals zu diesem Kino gekommen war. Jedes Mal kämpften sie voller Mühe um Eintrittskarten für die Filmvorführung. Sie waren nicht die Einzigen. Menschenmassen aller Altersgruppen strömten aus allen Ecken und Winkeln der Stadt herbei, um den Film zu sehen. Manchmal verstopften sogar mit Kinobesuchern beladene Kleinbusse den Eingang der kleinen Chajjam-Straße. Dies hatte es nie zuvor gegeben. Der von indischen Filmen bekannte Andrang war mit diesem Ansturm nicht zu vergleichen. Der Film war schon Monate lang auf dem Spielplan. Viele Menschen hatten den Film mehrmals gesehen und die dazu gehörige 3-D-Maske erworben.

Nie zuvor hatte die Stadt eine solche Erfahrung gemacht. Es gab weder die geeigneten Marktschreier noch die Händler, die sich auf den Verkauf der Masken verstanden. Er hatte keine Ahnung, wie der Kinobesitzer auf diese Idee gekommen war, hätte ihn aber liebend gern danach gefragt. Beim Kauf von Eintrittskarten erhielten die Zuschauer kleine Masken mit bunten Brillen dazu. So wimmelten damals Tausende von Masken durch alle Gassen. Wo auch immer man hinging, sah man diese Masken auf den Gesichtern der Menschen: auf den Gesichtern von Studenten und Schülern jeden Alters, auf den Gesichtern von Lehrern, Lehrerinnen und Kindern, auf den Gesichtern von Angestellten und Arbeitern, auf den Gesichtern der Polizei, der fliegenden Händler



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